Seubert: Was wir wollen können

Harald Seubert: Was wir wollen können – Bürgerliche Identität im 21. Jahrhundert

Harald Seubert
Was wir wollen können – Bürgerliche Identität im 21. Jahrhundert
224 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-9812110-3-0
19,90

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Obwohl traditionelle Bürgerlichkeit immer seltener wird, nennen heute fast alle Parteien sich und ihre Wähler „bürgerlich“. Selbst die Grünen, zu deren Programm gesellschaftliche Gleichmacherei, multikulturelle Desintegration und das Programm des „Gender Mainstreaming“ gehören, verstehen sich seit einiger Zeit als „bürgerlich“. Der Begriff hat also seinen Inhalt verändert und dies nötigt die wirklich Konservativen dazu, ihren Standort zu reflektieren und ihr Selbstverständnis neu zu formulieren.

Professor Harald Seubert legt mit diesem Buch eine tief reflektierende und weit ausblickende Klärung mehrdeutig gewordener Begriffe wie „konservativ“, „progessiv“, „bürgerlich“ sowie auch „links“ und „rechts“ vor. Der Erlanger Kulturphilosoph und Ideengeschichter belässt es dabei nicht bei der Analyse, sondern ruft zu mutigem Handeln auf, um die gefährdeten Grundlagen, von denen der demokratische Rechtsstaat lebt, ohne dass er sie selbst sichern könnte, zu bewahren. Ohne das christliche Erbe Europas, so das Credo des konservativen Vordenkers, kann das nicht gelingen.

In Zeiten rasender Veränderung, von Krisen und Orientierungslosigkeit, meldet sich in der öffentlichen Debatte unverkennbar die Sehnsucht nach Bewahrung. Dieser latente Konservatismus ist zumeist eher Lebensgefühl als begründete Position. In einer Zeit, in der selbst weit links stehende Parteien sich selbst als „bürgerlich“ verstehen, bleibt allzu oft unklar, was bürgerliche Identität ausmacht und wo Bürgerlichkeit zu Unrecht beansprucht wird. Hier sind Klärungen notwendig, denn bürgerliches Selbstbewusstsein ist ein prägendes Erbe Europas und unverzichtbar für die Demokratie.

Das neue Buch des Kulturphilosophen und Ideengeschichtlers Prof. Harald Seubert steckt wesentliche Eckpfeiler einer gegenwärtigen und zukünftigen bürgerlich-konservativen Identität ab. Seubert entwickelt im Kern eine Philosophie freiheitlich-bürgerlichen Selbstverständnisses. Dabei setzt er sich insbesondere mit Bildung und dem Zusammenhang von Patriotismus und Universalismus auseinander und thematisiert tiefschürfend das christlich-europäische Erbe und die Probleme der Gegenwart. Vor diesem Hintergrund skizziert Harald Seubert nicht nur ein Organon für bürgerliches Selbstverständnis im 21. Jahrhundert, sondern gibt auch einen Leitfaden für politische Auseinandersetzungen.

Frage: Herr Professor Seubert, warum müssen die Begriffe „bürgerlich“ und „konservativ“ heute neu geklärt werden?

Harald Seubert: Anhänger ebenso wie Gegner haben heute zumeist nur einen verwaschenen unklaren Begriff des ‚Konservatismus’. Die Diskussion in der CDU ist ein Indiz: Man geht davon aus, dass die konservativen Partien der Partei inzwischen eine quantité negligeable bilden; und man sieht, was m.E. abstrus ist, sogar eine Differenz zwischen ‚konservativem’ und christlichem Moment. Teils trug dazu bei, dass in den letzten Jahren ein Manchesterkapitalismus, oftmals die Kehrseite eines „Geldsozialismus“ (R. Baader) unbefragt mit ‚konservativ’ gleichgesetzt wurde; oder man versteht darunter eine erstarrte Position des Status quo. Meine Auffassung ist demgegenüber, dass ein Konservatismus des 21. Jahrhunderts sich der christlichen und Vernunft-Identität Europas versichern und sich, wie Goethe einmal sagt, „vor dreitausend Jahren muss Rechenschaft abgeben“ können. Zugleich muss er Gegenwart und Zukunft zu verstehen suchen. Ein solcher Konservatismus hat nichts mit Reaktion und nichts mit alten Nationalismen und ihren Stereotypen zu tun. Er steht auch nicht im Gegensatz zum Liberalismus, und er hat, wie die soziale Marktwirtschaft zeigt, die soziale Frage in sich aufgenommen. Ihm geht es, wie ich meine, nicht um Parteilichkeit neben anderen Parteilichkeiten, sondern die dringend erforderliche Gewinnung der Mitte.

Ähnlich komplex ist es mit dem Begriff der Bürgerlichkeit. Er ist aufs Engste mit Republik und Demokratie verbunden. So sprach schon Aristoteles von der Bürgerschaft als politike koinonia (bürgerliche Gemeinschaft). Bürgerlichkeit ist mithin zunächst ein Freiheitsbegriff. Erst später wird es eine soziale Kategorie, angefeindet von der Linken, etwa den 68ern, aber auch bereits im Nationalsozialismus unter Kuratel gestellt. Der Nationalsozialismus war eine dezidiert anti-bürgerliche Bewegung. Heute begreifen sich paradoxerweise grüne Besserverdienende als neues Bürgertum. Sie sind unter veränderten Vorzeichen Bourgeois, nicht Citoyens: Besitz- und Wut-, aber eben nicht Staatsbürger.

Seit einigen Jahren will in Deutschland niemand will mehr als „rechts“ gelten, selbst die CDU nicht, aber alle als „bürgerlich“ – sogar eindeutig linke Parteien. Wird „Bürgerlichkeit“ teilweise zu Unrecht beansprucht?

Seubert: Ich meine, dies ist in der Tat der Fall. Bürgerlichkeit ist keine Frage der Steuerklasse. Dazu gehört ein gemeinsamer Kanon, Bildung ist ein wesentliches Kriterium, ein Lebenshabitus, der eine gewisse Souveränität und Unabhängigkeit erkennen lässt; Zivilcourrage aber zugleich Staatsfreundschaft (D. Sternberger). Demgegenüber sehe ich bei jenen neuen ‚Bürgern’ oftmals nur das Argument des Eigennutzes. Man darf nicht übersehen, dass nach dem Niedergang der eisernen Bande des Kalten Krieges eine gesamteuropäische bürgerliche Identität wieder möglich wurde. Die „Anti-Politiker“, wie der große Václav Havel haben Mitteleuropa dezidiert bürgerlich definiert. Daran gilt es in der ganzen europäischen Dimension des Begriffs anzuknüpfen. Auch das Votum „Wir sind das Volk!“ in der DDR war im guten Sinn bürgerlich. Und was ‚Rechts’ und ‚Links’ angeht: ich weiß wohl um die spezifischen deutschen Probleme, sich zu bestimmen. Doch eine Mitte kann es nur geben, wenn es auch eine profilierte demokratische Rechte und Linke gibt. Rechts ist nicht mit rechtsextrem gleichzusetzen und „Kampf gegen den Faschismus“ macht eine linksextreme Position noch lange nicht akzeptabel. Wenn wir das vergessen, verspielen wir den Konsens.

Warum gehören Respekt für gewachsene Institutionen und „Staatsfreundlichkeit“ zu authentischer Bürgerlichkeit?

Seubert: Die bürgerliche Gesellschaft ist im Zuge der Französischen Revolution und der Industriellen Revolutionen nicht mehr als homogenes Gebilde verfasst. Dies hat als erster Hegel analysiert. Bürgerliche Gesellschaft wird zum Kräfteparallelogramm zwischen Produzenten und Konsumenten, ein System erzeugter und befriedigter Bedürfnisse. Daran haben Marx’ Analysen angeschlossen; er hat freilich die Gesellschaft nur noch als riesiges Räderwerk wahrhaben wollen. Hegel sah dagegen, dass es des Staates bedarf, um die Interessen einzuhegen. Dabei gehen Kant und Hegel über den Staat als Befriedungsinstanz hinaus, der eine große Errungenschaft der Neuzeit gewesen ist. Thomas Hobbes hat diesen Staatsbegriff in seinem ‚Leviathan’ mit Brillanz analysiert. Kant und Hegel sprechen aber vom sittlichen Staat, der Freiheit allererst institutionalisiert. Die preußische Staatsidee hat dabei vorbildliche Funktion. Dies ist ein hoch aktueller Gedanke. Dabei geht es darum, dass die pazifizierende Substanz des Rechtsstaates auch international vorangetrieben wird. Hier sehe ich große Defizite derzeit nicht. Umgekehrt bedarf es aber des Nationalstaates nach wie vor, denn ein ewiger Friede wird, wie Kant es sagte, nur als freie Föderation von Nationalstaaten entstehen. Staatsfreundschaft ist, lassen Sie mich dies hinzufügen, in jedem Falle ein wechselseitiger Akt: Staatliches Handeln muss seinerseits erkennen, wer seine Freunde, wer seine Gegner sind. Wenn dies nicht mehr klar ist, beginnt die große Verwirrung, lehrt schon Platon. Institutionen sind in der Tat ein gewachsener Habitus. In England und Frankreich sehen wir hier mehr Kontinuität als in Deutschland mit seinen großen Abbrüchen. Doch Institutionen geben Halt und formen das Leben. Ohne sie geht es nicht.

Welche Bedeutung haben dabei Geschichtsbewusstsein und ein räumlich weiter Horizont mit Aufmerksamkeit für außenpolitische Fragen?

Seubert: Ich meine mit Heidegger, dass es ohne Wissen um Herkunft keine Zukunft geben kann. Gewiss, Geschichte wiederholt sich nicht einfach. Doch wenn man ihre Lektionen nicht gelernt hat, kehrt sie schrecklicher von unerwarteten Seiten her wieder. Vor diesem Hintergrund sehe ich den „historischen Analphabetismus“, in Schulen, aber längst auch schon in Universitäten mit großer Skepsis. Geschichtsbewusstsein bedeutet auch freimütige, wahrhafte Erkenntnis des Gewesenen: Des Schlimmen und des Großen. Geschichte verlangt Einsicht, Nüchternheit, möglichst umfassende Wahrnehmung. Auch hier gilt das biblische Wort, dass die Wahrheit frei macht. Die außenpolitische, geostrategische Denkweise stand in Deutschland nach 1945 lange unter Verdacht. Sie, und damit auch die Definition wohlverstandener nationaler Interessen im internationalen Konzert, ist aber unerlässlich. Am Beginn des 21. Jahrhunderts tariert sich die Welt neu aus. Es ist m.E. wesentlich, dass die transatlantische Allianz und Europa darin ihre Rolle neu finden. Hier hat Deutschland, Schlachtfeld und Schachbrett in der Mitte Europas (M. Stürmer), eine langfristige strategische Aufgabe. Um klar zu sehen, bedarf es eines historisch geeichten Kompasses.

Warum sollte die europäische Einigung die Nationalstaaten nicht infrage stellen?

Seubert: Immer war Europa „Einheit aus Vielheit“. Die Vorstellung eines vorweggenommenen Weltstaates, der für sich schon eher ein Schreckens- als ein Friedensgedanke ist, widerspricht diesem Differentsein. „Vereinigte Staaten von Europa“ laufen also dem Europagedanken zuwider, den de Gaulle m.E. bis heute gültig in die Formel vom „Europa der Vaterländer“ gebracht hat. Gewiss, wir erleben Migrationsbewegungen, Angleichungen der Bevölkerungen in Europa. Doch es gibt nach wie vor Rechts- und Kulturtraditionen, die sich deutlich unterscheiden und nicht in eine „bunte Republik“, einen Flickerlteppich, wie man in meiner bayrischen Heimat sagt, aufzulösen sind. Sie können nur durch Komplementarität voneinander lernen und einander fruchtbar ergänzen.

Sie sind ein entschiedener Kritiker der sog. Bologna-Universität. Warum ist das so und inwiefern verstärkt der Niedergang der klassischen Universität die gesellschaftlichen Probleme, die Skeptiker als Dekadenz bezeichnen?

Seubert: Nun, auch die Universität vor der Bologna-Reform war nicht mehr, was sie im Humboldtschen Sinn der Einheit von Forschung und Lehre sein sollte. Sie war zu einem oftmals mediokren Massenbetrieb geworden; leider setzten sich in der Fläche nicht die – teilweise durchaus elitären – Neugründungsideen der späten sechziger, siebziger Jahre (Bielefeld, Konstanz) durch, und leider wurde auch im Zusammenhang der deutschen Einheit die Chance einer wirklichen Erneuerung der deutschen Universität verspielt. Bologna ist vor allem in den Geisteswissenschaften, die ich pro domo überblicke, und in Theologie und Rechtswissenschaft eine Verflachung, eine schlechte „Verfachhochschulung“. Man beruft sich auf die angelsächsischen Länder, verschweigt aber, dass man nur die Mediokrität von dort übernimmt, nicht die Elite. – Die klassische Universität ist ein Ort freien, uneingeschränkten Denkens, einer Gemeinschaft älterer und jüngerer Forscher in bestimmten Rangordnungen und eben kein Dienstleistungsunternehmen, keine Erzeugungsmaschinerie für Abschlüsse. An der Universität sollte ein bestimmtes Ethos bestehen, das für alle verbindlich ist – und die jüngsten Plagiatsangelegenheiten, Spitzen eines Eisbergs, zeigen doch, wie sehr es beschädigt ist. Universitäten als Ort des Ethos und der Freiheit: Wenn die wirklichen Eliten, Juristen, Mediziner, Lehrer, Theologen dies für einige Jahre erlebt haben, hat es für ihr lebenslanges Wirken und für die Gesellschaft insgesamt immense Konsequenzen. Diese Universitätsprägung fehlt heute.

Sie lehren, dass die Aufklärung auf zwei großen Traditionslinien basiert – einer nichtchristlichen, von der Kirche sogar bekämpften und einer zumindest unbewusst christlich geprägten und inspirierten Linie. Letztere sei die fortwirkende, eigentlich tragende, heute aber gefährdete Grundlage der Aufklärung. Muss die Aufklärung durch eine christliche Erneuerung gerettet werden?

Seubert: Mich stört, die abstrakte Berufung auf „die Aufklärung“, auch im „Verfassungswerk“ der EU. Man muss zunächst diese beiden von Ihnen genannten Aufklärungslinien unterscheiden, man muss sich sodann fragen, woraus Aufklärung ihre Substanz geschöpft hat: Und da ist es neben dem Gedanken der Vernunft, der sich auch schon auf das antike Griechenland beziehen kann, und des universalen Rechtes vor allem die Menschenwürde und die universale Freiheit. Sie sind aber überhaupt erst durch christliche Verkündigung und Dogmatik in die Welt gekommen: durch die – allerdings bereits alttestamentarische und damit auch jüdische – Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, und die spezifisch christliche Menschwerdung Gottes. Deshalb kann ich Ihre Frage nur eindeutig bejahen, zumal man erstmals in der Französischen Revolution sah, dass eine von ihrer christlichen Wurzel abgekoppelte Aufklärung Ungeheuer hervorbringt, Gewalt und Terror. Der große marxistische Philosoph Ernst Bloch, Lehrer meines Lehrers Manfred Riedel, sprach vom „Aufkläricht“. Die Analogie zu „Kehricht“ ist beabsichtigt.

Gefährdet also der Niedergang des christlichen Erbes unseres Kontinents – vom praktizierten Glauben über den traditionell christlich geprägten Wertekonsens – die Stabilität von Rechtsstaat und Demokratie?

Seubert: Vittorio Hösle sagt einmal: man müsse ein sehr moralischer Mensch sein, um sich den Atheismus leisten zu können. Und selbst dann habe ich noch Zweifel. Wir sehen, dass der Verlust christlicher Bindung in Europa zu einem umfassenden Relativismus führt, der Papst hat ihn 2007 noch vor seiner Wahl als „Diktatur“ analysiert; zu Utilitarismus, Eigensucht oder bei den besseren Seelen zu oft tiefgreifende Orientierungslosigkeit. Unsere Verfassung verweist auf das Sittengesetz: Es ist die aufklärerische, Kantische Übersetzung des Wertekanons, der ohne Christentum nicht denkbar wäre. Ich würde ihn mit Habermas als einen „Glutkern“ von Religion bezeichnen, der auch für Agnostiker, Atheisten und für Menschen aus anderen Religions- und Kulturkreisen von entscheidender Bedeutung ist. Es ist einer der tiefsten Gründe für Menschenrechte und Menschenwürde: dafür, dass auf Erden und in diesem Land Menschen menschlich leben können. Unsere Zivilreligion können wir nicht einfach auf wahllosen Pluralismus bauen; sie sollte auf diese Unterschiedenheit und Entschiedenheit bezogen sein.

Sie lehren auch in Posen. Gibt es Teile des klassisch-europäischen Denkens, die in Polen heute besser verstanden werden und deren Früchte dort womöglich besser bewahrt sind als in Deutschland?

Seubert: Polen ist in starkem Umbruch. Auch dort greift, teils mit atemberaubender Geschwindigkeit, Säkularisierung und Entchristlichung. Zudem geht die Reise der jungen Leute stark in den angelsächsischen Raum, nach Südamerika, nach China. Aber das traumatische und nahe Verhältnis zu Deutschland ist nach wie vor sehr ausgeprägt. Was Sie fragen, kann ich nicht nur für Polen, sondern auch für die Studenten aus Korea, Japan, Indien, Russland bejahen, die ich an meinen deutschen Wirkungsorten oft bis zur Promotion betreut habe: Sie haben einen Sinn und eine Kulturachtung für die Höhenwege deutschen Geistes, Kant, Goethe, Hegel, Heidegger, wo bei uns ein wenig Political Correctness und Zynismus sind. Und viele, die die deutsche Sprache lernen, um solche Denker und Dichter zu lesen, finden sie auf den Curricula nicht oder kaum.

Was müsste in Deutschland schon bald, etwa in den kommenden zwei bis drei Jahren, unbedingt geändert werden?

Seubert: Ich will nicht von einzelnen Maßnahmen sprechen. Sie unterliegen Konsens und Kompromisserfordernissen, auch internationalen Verflechtungen. Aber: Es sollte das unsägliche Wort von der „Alternativlosigkeit“ verschwinden, und das heißt: Wir brauchen in unserem Land freie, tiefe, bürgerliche Debatte in und außerhalb des Parlamentes über die wesentlichen Fragen. Wir brauchen endlich wieder Zivilcourage und mehr Parrhesia: Freimut in öffentlicher Rede. Wir brauchen wieder einige Elementartugenden als Selbstverständlichkeit, auch hier halte ich Preußen für eine Leitidee. Wir müssen, vor allem, den antitotalitären Konsens, der die alte Bundesrepublik getragen hat, gegenüber verfassungs- und republikfeindlichen Tendenzen rechts- wie auch linksextremer Strömungen wiedergewinnen und Respekt und Achtung vor Institutionen. Hier gibt es Unterhöhlungen, die auf ein sittliches Vakuum deuten. Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit, sie sind sie aber nicht. Und, es bedarf der verantwortlichen, unabhängigen Stimmen, nicht der Experten, die zugleich Lobbyisten sind. Es kann doch nicht sein, dass unabhängige Geister, die etwa in der Euro-Frage abweichende Meinungen haben, verschwefelt und als „Europagegner“ desavouiert werden, dass eine jede Position, die auch konservative Züge hat, von „Antifas“, denen zumindest unwissende, wenn nicht manchmal böswillige Redakteure auch schon in staatlichen Sendern folgen, mit Rechtsextremismus gleichgesetzt werden. Wir brauchen weniger Schein und Intriganz, in Medien und Think Tanks, weniger Technokratie, sondern Aufbruchsgeist und Gemeinsinn. Das Grundgesetz kann noch immer ein Maßstab sein. Aristoteles nennt das „Sinn für das Tunliche“. Dann wären auch Neutrierungen des Bildungsbegriffs und des Wertesystems entscheidend: Wir brauchen wieder eine sichtbare Elite, die den Namen verdient und sichtbar sollten die werden, die unbemerkt, einer solchen Elite längst angehören.

13. Januar 2012; die Fragen stellte Konrad Badenheuer.

Ein eindrucksvoller Beitrag zur Konservatismus-Debatte

Rezension des Buches „Was wir wollen können. Bürgerliche Identität im 21. Jahrhundert“ von Prof. Dr. Harald Seubert für die Zeitschrift „Diakrisis“.

Noch vor wenigen Jahren war der 1967 geborene Kulturphilosoph Harald Seubert nur Kennern ein Begriff. Doch inzwischen hat der vielseitige Denker, der in Posen, Bamberg und München lehrt, durch charismatische Redeauftritte und eindrucksvolle Publikationen rasch an Bekanntheit gewonnen. Im Frühjahr 2010 wurde er zum Präsidenten des Preußeninstituts gewählt, im Sommer 2011 zusätzlich zum Präsidenten der konservativen „Denkfabrik“ Studienzentrum Weikersheim. Außerdem verwaltet Seubert das geistige Erbe des 2008 verstorbenen Günter Rohrmoser und ist auch dadurch zu einer Schlüsselfigur des intellektuellen Konservatismus in Deutschland avanciert. Sein neues Buch „Was wir wollen können. Bürgerliche Identität im 21. Jahrhundert“ dürfte dazu beitragen, diese Position auszubauen.

Das Buch setzt sich das anspruchsvolle Ziel, in einer Zeit das rapiden gesellschaftlichen Umbruchs herauszuarbeiten, was eine bürgerlich konservative Identität heute und in Zukunft überhaupt ausmacht. Wie notwendig diese Klärung ist, zeigt sich schon daran, dass heute auch eine so eindeutig linke Partei wie die Grünen sich und ihre Wähler als „bürgerlich“ versteht. Das war noch vor wenigen Jahren ganz anders, als auch Grüne und SPD sich – wie bis heute die Linkspartei – entschieden von „bürgerlichen“ Parteien abgegrenzt haben. Doch die Koordinaten haben sich verschoben: Während heute alle irgendwie „bürgerlich“ sein wollen, will niemand mehr im Entferntesten als „rechts“ gelten und selbst die C-Parteien tun sich erkennbar schwer mit allem, was „konservativ“ wirken oder womöglich sein könnte.

In dieses Umfeld schreibt Harald Seubert, der allerdings die parteipolitische Dimension der Konservatismus-Debatte nur zwischen den Zeilen behandelt. Schon im Vorwort erklärt er mit einem knappen Satz, warum das so ist: „Im Kern geht es dem Konservativen nicht um Parteilichkeit neben anderen Parteilichkeiten, sondern um einen begründeten Konsens für das Gemeinwesen – in europäischer und globaler Perspektive.“

Die Begründungen eines Konsenses mit so weitreichendem Anspruch können gar nicht tief genug sein, sie reichen weit in die Geschichte und letztlich in die religiöse Dimension hinein. Und so begründet Seubert seine Positionen nicht nur vor dem Hintergrund von über 2000 Jahren philosophisch-denkerischer Anstrengungen, sondern er gehört zu denen, die daran festhalten, „dass das freiheitlich-demokratische Gemeinwesen christliche Arkana zu seiner Voraussetzung hat“. Diese Überzeugung, die anders als diese „Arkana“ (Glaubensgeheimnisse) selbst, nicht auf einer Offenbarung, sondern auf logischen Schlüssen basiert, schließt für Seubert ausdrücklich „Respekt und Achtung vor dem Agnostiker ein, der sein Ethos ohne den christlichen Grund der Hoffnung oder den jüdischen Bund gestaltet“. Dieser Respekt, der letztlich wieder in christlichen Überzeugungen wurzelt, ist etwas ganz anderes als die zunehmende Vergötzung einer „Toleranz“, die keinen eigenen Standpunkt mehr hat, sondern relativistisch irrlichtert und sich dabei selbst ad absurdum führt, weil sie zur Intoleranz tendiert.

Seubert analysiert und bestimmt die Begriffe „bürgerlich“ und „konservativ“ anschaulich anhand der Bildungspolitik (wo er die sogenannte „Bologna-Universität“ mit spitzer Feder kritisiert), anhand der friedlichen Revolution von 1989 (die er mit der Französischen Revolution kontrastiert und als Beispiel eines weltoffenen Patriotismus würdigt) sowie anhand der inneren Entwicklungen Deutschlands seit der Wiedervereinigung. In diesen Kapiteln verbinden sich analytische Genauigkeit eindrucksvoll mit Beobachtungsgabe und Sprachkraft. Hier wird konkret, was in den vorangehenden Kapiteln 2 und 3 auf sehr hohem Niveau teilweise recht abstrakt hergeleitet und diskutiert wurde. Zweifellos brillant, sind manche Passagen dieser Kapitel doch schwere Kost und nicht jedermanns Sache.

Ein weiteres Glanzlicht des Buches ist das Kapitel 7 „Christliches Abendland ohne Christus?“. Eindrucksvoll zeigt Seubert auf, welche Gefahren eine „Diktatur des Relativismus“ birgt, die selbst nicht-christliche Denker wie der italiensche Wissenschaftsphilosoph und Senatspräsident Marcello Pera bereits als „unsere uneingestandene Zivilreligion, die unsere Kultur zerstört“ brandmarken. Seubert plädiert dagegen in der Tradition Hegels und nahe an den Vorstellungen von Papst Benedikt XVI. dafür, „aus dem Geist des Christentums heraus auch die Aufklärung, die Moderne und ihre Errungenschaften zu retten“. Er zitiert zustimmend den französischen Philosophen Rémi Brague: „Dieses moderne Europa, diese von Christus sich ablösende Welt kann es fertigbringen, wirtschaftlichen Wohlstand, ja Kultur zu erhalten und eine praktische Antwort auf die Fragen des Lebens zu geben. Aber sie vermag nicht mehr zu sagen, warum es gut ist, dass es auch weiterhin Menschen geben soll, die ein solches Leben leben!“

Das so Seubert, sei die entscheidende Frage und sie könne „wohl aus den heute dominierenden Denk-systemen heraus gar nicht beantwortet werden.“ Hier könne der Christ nur vom Zentrum des Glaubens heraus leben und denken. „Es könnte in der Tat das Entscheidende am Beginn des 21. Jahrhunderts sein, die christliche Frage wieder zum Leben zu erwecken.“ Damit das gelinge, bedürfe es einiger Voraussetzungen. „Zunächst erfordert ein wirksames christliches Leben, dass der einzelne Mensch in seinem Gebet, in seinem Glauben sich wieder zu Christus wendet.“ Das sei ganz unerlässlich, denn sonst bliebe jeder politische und auch philosophische Appell abstrakt.

Als Leser staunt man zunächst über solche Passagen. Aber wenn sich aufzeigen lässt, dass freiheitlicher Rechtsstaat, Demokratie und soziale Marktwirtschaft nicht nur in ihrer Entstehung auf christlichen Impulsen basieren, sondern diese Impulse laufend benötigen, um stabil fortbestehen zu können, dann ist der Appell zur christlichen Erneuerung nur folgerichtig. Seubert hat hier den Mut, zu Ende zu denken und auszuführen, was andere konservative Autoren an dieser Stelle meist nur besorgt andeuten. Schon allein aus diesem Grund verdient das Buch Beachtung zumal im christlichen Bereich. Dass Seubert in einer völlig schwammig gewordenen Konservatismus-Debatte nicht weniger als eine Philosophie freiheitlichen bürgerlichen Selbstverständnisses entwickelt, ist der andere, eindrucksvolle Beitrag dieses Buches zur Klärung und Orientierung in einer Zeit des Umbruchs.

Matthias Fischer

Im Druck noch unveröffentlicht, Veröffentlichung hier mit freundlicher Genehmigung des Schriftleiters von „Diakrisis“, Andreas Späth.